Die Angst ist immer dabei

Die Polizeiseelsorge hilft Beamten, seelische Krisen zu überwinden

Es gibt Tage, die sind Routine – keine besonderen Vorkommnisse, der übliche Dienst. Und dann kommt ein Moment, der ritzt eine Kerbe ins Leben. Danach ist nichts mehr wie es war.

Polizeieinsatz in der Innenstadt (Bild: imago) © imago

München – Die Münchner Polizeibeamtin erinnert sich noch nach Jahren, wie sie in eine gefährliche Situation hineingeraten ist. Sie wird zu einem Einsatz gerufen, über Funk heißt es: „Da schnippelt einer an sich herum.“ Arglos und selbstsicher macht sie sich auf den Weg. „Wir sind da hingefahren wie zu einem Kindergeburtstag“, erzählt sie auf einem Projekttag der Polizeiseelsorge. Was dann geschah, hat sie nicht erwartet: Der Verrückte richtet sein Messer auf die Polizistin. Es bleibt ihr nichts anderes übrig, als zu schießen, um sich selbst zu schützen. Ein Messer, ein Schuss – und nichts ist mehr wie vorher.

„Der Schusswaffen-Gebrauch ist immer ein Super-Gau in der Karriere eines Polizisten.“ Monsignore Andreas Simbeck hat viele Gespräche mit Polizeibeamten geführt, er hält berufsethischen Unterricht an Standorten der Bereitschaftspolizei und leitet als Landespolizeidekan die Polizeiseelsorge für Südbayern. In seinem Büro im Münchner Stadtteil Schwabing steht neben dem Computer ein großes Holzkreuz und eine Osterkerze, die Polizisten auf einer Berghütte gefertigt haben. Ein Tisch, Stühle und Zeit – das ist sein Angebot. Seine Aufgabe ist: zuhören, Fragen stellen und vorsichtig Ideen in das Gespräch einbringen.

Als Polizeiseelsorger ist er in der Regel nicht an Tatorten, um den Opfern beizustehen. Nur in Katastrophen-Situationen wie beim Zugunglück in Bad Aibling am Faschingsdienstag oder beim Einsturz der Eissporthalle in Bad Reichenhall 2006 werden alle Notfall-Seelsorger alarmiert, und dann wird auch Simbeck an den Tatort gerufen. Im Regelfall ist er „Notfall-Seelsorger nach innen“, also für die Polizeibeamten, wenn diese Opfer sind. „Oft können die am Ort des Geschehens noch nicht umreißen, was sie sehen und erleben.“ Aber später meldet sich die Seele. „Sie spüren dann: Ich habe Fragen, ich habe Probleme.“

Dabei ist das, was ein Polizeibeamter erlebt, weit weg von dem, was Krimis am Sonntagabend zeigen. Markus Bild, Polizeihauptkommissar in München (siehe Interview) schaut sich gerne den „Tatort“ an, aber er kritisiert die Realitätsferne: „In den Krimis geht es um die Darstellung der Kommissare als Persönlichkeit. Die echten Polizei-Einsätze sind ganz viel Teamarbeit. Solche Alleingänge wie im Fernsehen würde kein Beamter tun. Wenn man merkt, dass es brenzlig wird, geht der erste Griff zum Telefon, um Verstärkung zu holen – sowohl wegen der Beweissicherung als auch wegen der Eigensicherung.“

Der echte Alltag an einem beliebigen Tag bei der Polizei in München sieht so aus: Ein versuchter Totschlag mit einer Eisenstange vor dem Hauptbahnhof, den ein zufällig anwesender Beamter gerade noch verhindern kann; ein Mord und ein versuchter Selbstmord des mutmaßlichen Täters in einem gutbürgerlichen Wohnviertel; die Festnahme einer Taschendieb-Bande; etliche Verkehrsunfälle mit Schwerverletzten. Was die Beamten vor Ort sehen, zeigt kein Foto. Die Würde des Menschen wird geachtet – sowohl die der Opfer als auch die der Täter. Das gilt auch für Katastrophen: Vom Zugunglück in Bad Aibling gibt es keine Nahaufnahmen. Aber die Beamten vor Ort stehen mitten im Geschehen, schauen den Verletzten und Toten ins Gesicht.

„Zunächst tun die Beamten ihren Job, sie funktionieren“, erzählt Simbeck. „Aber nach drei bis vier Wochen stellen sie fest, dass sich natürliche Reaktionen entwickeln wie Schlaflosigkeit und Alpträume. Da muss ich dann im Gespräch klarmachen: Das ist eine normale Reaktion auf ein besonderes Ereignis. Ein solches Erlebnis kann so einschneidend sein wie der Tod eines nahen Angehörigen.“

Insgesamt 28 Landespolizei-Seelsorger arbeiten in Bayern ökumenisch zusammen. Sie halten Seminare in Berufsethik während der zweieinhalb Jahre dauernden Ausbildung der Polizeivollzugsbeamten. Dabei ist ein wichtiges Unterrichts-Thema das Überbringen von Todesnachrichten an die betroffenen Angehörigen von Opfern. „Ich muss als Überbringer von Todesnachrichten authentisch sein. Der Angehörige muss mir abnehmen: Der meint es ernst – der Polizist ist ein Mensch in Uniform.“

Zuweilen erleben Beamte auch befremdliche Situationen – etwa wenn eine Frau, der die Nachricht vom Tod ihres Mannes überbracht wird, weiter staubsaugt und nicht weint, nicht reagiert. „Das ist für den Überbringer der Nachricht verunsichernd“, so Simbeck. Dem Polizisten kommen dann Zweifel an sich selbst. „Authentisches, sicheres Auftreten ist jedoch wichtig für einen Polizisten. Er darf keine Unsicherheit, keine Angst ausstrahlen – vor allem, wenn das Gegenüber aggressiv ist.“ Dafür gibt es in der Ausbildung Rollenspiele, erzählt Simbeck.

Manchmal stellen junge Menschen in der Ausbildung fest, dass sie sich die Polizeiarbeit ganz anders vorgestellt haben. „Viele machen die Erfahrung, dass sie in tiefe menschliche Abgrün-

de schauen: Verwahrloste Personen, Sucht-Abhängige, Verwirrte, die sich nicht helfen lassen. Das ist auch eine Frage an gesellschaftliche Zustände, wenn eine Streife in einer Nacht dreimal dieselbe verwirrte Person im Nachthemd zurück ins Heim bringt, wo man nicht in der Lage ist, auf sie aufzupassen.“

Ein erfahrener Beamter wie Markus Bild bereut im Rückblick seine Entscheidung für die Polizeilaufbahn nicht: „Ich war schon als junger Mann bei der Freiwilligen Feuerwehr, und in meinen Augen ist es einfach ein Beruf, wo man für die Menschen da ist, mit Menschen zu tun hat – ganz ähnlich wie in der Seelsorge.“

Dennoch wachsen die Anforderungen an Polizeibeamte – gerade auch durch die Terrorlage in Europa. Simbeck hat für die Zukunft viele Fragen: „Bekommen wir Zustände wie in Israel, wie in den USA? Was ge-schieht, wenn ein Polizist einen Menschen mit Sprengstoffgürtel sieht – muss er den erschießen, um eine größere Katastrophe zu verhindern? Das ist eine rechtliche und eine ethische Frage!“ Die Angst geht mit, auch bei der Polizei. (Annette Krauß)