München – Neun Frauen haben sich an diesem kalten Winterabend im Chorraum des Liebfrauendoms im Halbkreis aufgestellt. Sie alle tragen lange rote Kleider, ihre Köpfe bedecken schalähnliche weiße Spitzentücher. Es sind die Mitglieder des armenischen Chors „Shogher“. Auf ein Zeichen ihrer Dirigentin Armine Babayan hin stimmen sie einen traditionellen Hymnus A-cappella an, während in einer langen Reihe die Mitglieder der verschiedenen Kirchen der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) zum Gottesdienst zur Gebetswoche für die Einheit der Christen einziehen. Am Ende gehen der rumänisch-orthodoxe Bischof Sofian von Kronstadt, Bischof Serovpé Isakhanyan, der die armenische apostolische Kirche in Deutschland leitet, der evangelisch-lutherische Landesbischof Heinrich Bedford-Strohm und Kardinal Reinhard Marx.
Aktueller Bezug zur politischen Lage
Der internationale liturgische Entwurf der weltweit begangenen Gebetswoche für die Einheit der Christen wurde in diesem Jahr von einer Gruppe aus Malta erarbeitet. Sie wählte das Leitwort „Sie waren uns gegenüber ungewöhnlich freundlich“ aus der Apostelgeschichte (Apg 28,2).
Und Kardinal Marx nimmt in seiner Begrüßung Bezug auf diese biblische Episode, in der Paulus im Jahr 60 nach Christus Schiffbruch vor der Küste Maltas erleidet und auf der Insel große Gastfreundschaft und Hilfe erfährt. Angesichts der unzähligen schiffbrüchigen Flüchtlinge in unseren Tagen stellt der Kardinal die Frage in den Raum, ob diese in Not geratenen Menschen 2.000 Jahre später auch diese Paulus-Erfahrung mit Europa machten: „Sie waren uns gegenüber ungewöhnlich freundlich“. „Oder würden sie von Abweisung berichten?“ Auch wenn klar sei, dass es keine einfachen Antworten auf die Fragen von Flucht und Migration gebe, „wollen und können wir die politischen Akteure nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, dafür zu sorgen, dass das Sterben im Mittelmeer aufhört“, sagt der Erzbischof.
Überwindung der Angst
Ein Zeugnis der unzähligen Gefahren und Entbehrungen der heutigen Flüchtlinge gibt ein Christ aus dem Libanon, der aus dem syrischen Bürgerkrieg in die Türkei geflüchtet ist. Er liest seine Geschichte der Versammlung vor. Bei der Überfahrt nach Griechenland kentert das Boot. 45 Minuten treibt er seinerzeit mit Schwimmweste im Meer, bevor ein griechisches Boot ihn und die anderen Schiffbrüchigen aufsammelt, einige sind da bereits ertrunken.
Landesbischof Bedford-Strohm greift dieses bewegende Lebensschicksal in seiner Predigt auf und kritisiert das Verhalten vieler Politiker: „Wenn es nach denen gegangen wäre, die heute Angst verbreiten, wäre er nicht hier. Was ist los im Deutschland des Jahres 2020, dass wir darüber diskutieren müssen, ob wir es uns leisten können, ein paar tausend Kinder und ihre Familien hier aufzunehmen und damit der griechischen Regierung zur Seite zu stehen? “ Der Landesbischof fordert eine „Erneuerung Europas“ und die „Überwindung der Angst“: „Lasst euch von der Liebe leiten und nicht von der Angst“, ruft er den Gläubigen über alle Konfessionen hinweg zu.
Am Ende segnet Bischof Serovpé Körbe mit rot leuchtenden Granatäpfeln, die an die Hauptzelebranten wie Gottesdienstbesucher verteilt werden. Die Frucht, die ursprünglich aus dem vorderen Orient stammt, ist seit Urzeiten ein Symbol für Leben und Fruchtbarkeit. In der christlichen Symbolsprache kann der Granatapfel auch für die Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen stehen – gibt es ein besseres Zeichen für einen solchen Gottesdienst?