Das Weihnachtsfest verkündet eine wirklich Frohe Botschaft. Nicht nur an Christen. Es ist eine Menschheitsbotschaft. Sie schließt freilich weder Geschenke noch Weihnachtsgans oder andere kulinarische und flüssige Köstlichkeiten aus. Der Mensch mag Materielles. Warum auch nicht? Doch der Mensch lebt nicht von Gans, Geschenken, Speis’ und Trank allein. Ohne die Verbindung mit Ideellem kein Wohlbefinden.
Gerade als Jude habe ich seit jeher den Zauber der Weihnachtszeit in Deutschland genossen und die Christen um dieses wunderschöne Fest geradezu beneidet. Ich war nicht allein. Wer die deutschjüdische Geschichte kennt, weiß, dass besonders deutsche Juden auf „ihren“ Weihnachtsbaum keinesfalls verzichten wollten. Selbstironisch sprachen sie vom „jüdischen Weihnachtsbaum“. Voller Inbrunst sangen viele Juden auch Weihnachtslieder wie „Stille Nacht, Heilige Nacht“ oder „Es ist ein Ros’ entsprungen“. Christlicher geht’s nimmer, sollte man denken. Pustekuchen. Womit wir bei der jüdischchristlichen Verflechtung auch und gerade des scheinbar nur und urchristlichen Weihnachtsfestes wären.
Ohne das Alte kein Neues Testament
Der Belege gibt es viele, wir begnügen uns hier mit Wenigem, Beispielhaftem. „Es ist ein Ros’ entsprungen“ ist zugleich urchristlich und (!) urjüdisch. Jesaja 11,1: „Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ „Ros/Reis“ poetisch für „Spross“ und „Stamm“ im Sinne von Haus, Geschlecht oder Familie.
Kurz erklärt: Der jüdische Prophet Jesaja verkündet, dass aus dem Hause Isai jemand geboren werde. Und weiter (Jesaja 11,2–10): „Auf ihm wird ruhen der Geist des HERRN, der Geist der Weisheit und des Verstandes, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Furcht des HERRN. Und Wohlgefallen wird er haben an der Furcht des HERRN. Er wird nicht richten nach dem, was seine Augen sehen, noch Urteil sprechen nach dem, was seine Ohren hören, sondern wird mit Gerechtigkeit richten die Armen und rechtes Urteil sprechen den Elenden im Lande, und er wird mit dem Stabe seines Mundes den Gewalttätigen schlagen und mit dem Odem seiner Lippen den Gottlosen töten. Gerechtigkeit wird der Gurt seiner Lenden sein und die Treue der Gurt seiner Hüften. Da wird der Wolf beim Lamm wohnen und der Panther beim Böcklein lagern. (…) Und es wird geschehen zu der Zeit, dass die Wurzel Isais dasteht als Zeichen für die Völker.“ Das ist die jüdisch-prophetische Vision des Messias aus dem Hause Davids, des sozusagen positiv jüdischsten aller jüdischen Könige. Aufgeklärten Christen nichts Neues, denn gerade Christen, die ihr Christentum ernst nehmen und es kennen, wissen: Ohne das erste, jüdische, Testament kein zweites, christliches.
Ohne das Alte kein Neues Testament. Wer die jüdischen Wurzeln des Christentums zerschlägt, zerschlägt letztlich die Wurzeln des Christentums. Oder ein anderes Bild: Wer das jüdische Fundament des christlichen Hauses zerstört, lässt das christliche Haus in sich zusammenbrechen.
Judentum und Christentum gehören zueinander – nicht gegeneinander
Ebenso gilt: Die moderne Wissenschaft vom Judentum hat bewiesen, dass das heutige, auf dem Talmud basierende Judentum ohne das Christentum undenkbar wäre. Christentum und Judentum sind seit jeher rivalisierende Geschwister. Nach nunmehr zweitausend Jahren dürften sie ihre „Kindheit“ und damit auch ihre Rivalität allmählich überwunden und zu einem verträglichen familiären Miteinander gefunden haben, denn: Das Judentum ist nicht dem Christentum überlegen oder umgekehrt. Beide gehören geistes- und religionsgeschichtlich zueinander und nicht gegeneinander – auch wenn die Realgeschichte, zumindest bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil („Nostra Aetate“, 1965), ganz anders verlief.
Dieser brückenschlagende Geist kennzeichnet die im Sankt Michaelsbund erschienene Weihnachts-Haggadah von Henning Schroedter-Albers. Sie will Weihnachten wahrlich nicht zu einem jüdischen Fest umzaubern. Kein Religionsimperialismus, sondern echter Religionspazifismus. Weihnachten war, ist und bleibt christlich, christlich, christlich. Punkt! Es droht aber leider die Entchristlichung dieses so wunderbar, zauberhaften Christenfestes. Ironie der christlich-jüdischen Geschichte und Theologie: Vielleicht kann ausgerechnet die Haggadah-Methode, also die fröhlich belehrende Pädagogik des (natürlich jüdischen) Pessachfestes zur Bewahrung oder, noch besser, zur neuerlichen Festigung des aufgeklärten, entkrampften, fröhlichen und zugleich christlichen Charakters dieses Christenfestes beitragen? Möge diese Haggadah die Weihnachtsfreude und die Zahl der christlich Feiernden mehren, das wünscht Ihnen und sich der das Christentum ehrende und verehrende Jude. (Michael Wolffsohn)