Wenn ein Bühnenspiel eine fast 400-jährige Tradition besitzt, kann man davon ausgehen, dass es hierüber eine Vielzahl an Anekdoten und Begebenheiten zu berichten gibt. Die Oberammergauer und ihr weltbekanntes Passionsspiel machen hier keine Ausnahme. Pünktlich zu den diesjährigen Aufführungen hat die Journalistin Viola Schenz – verheiratet mit einem Oberammergauer – im Münchner Volk-Verlag ein 180-seitiges reich bebildertes Werk vorgelegt: „Die Geschichte der Oberammergauer Passionsspiele – ein Dorf begeistert die Welt“ lautet der selbstbewusste Titel. Das ist jedoch keine allzu große Übertreibung, schließlich besuchten beim letzten Mal, 2010, über eine halbe Million Zuschauer die gut hundert Vorstellungen von Mai bis Oktober.
"Mysterium Oberammergau"
Schenz bietet vor allem eine solide Auflistung der Fakten. Kein Wunder, Auskunft gaben bei ihren Recherchen unter anderem die Leiterin des Gemeindearchivs, Passionsspiel-Darsteller, der ehemalige und aktuelle Bürgermeister und natürlich Christian Stückl, dem unter der Überschrift „Der Rebell“ ein eigenes Kapitel gewidmet ist. Stückl trug seinen Teil zum Buch bei und „erläuterte mir stundenlang das Mysterium Passionsspiel und das noch größere Mysterium Oberammergau“ schreibt die Autorin in ihrer Danksagung.
Pestgelübde am Anfang
Die Grundlage für das Spiel vom Leiden und Sterben des Herrn bildet das bekannte Pestgelübde aus dem Jahr 1633, vergangenes Jahr im Vorspiel auf der weltgrößten Freiluft-Bühne wieder augenfällig dargestellt: Die Oberammergauer versprachen damals, falls die Seuche ende, regelmäßig das Leiden und Sterben Jesu aufzuführen. Gelobt, getan, bereits im darauffolgenden Jahr fanden die Spiele statt – auch wenn anderen Quellen zufolge wohl schon davor in unregelmäßigen Abständen die Passion des Herrn im oberbayerischen Dorf unterm Kofel szenisch dargestellt wurde. Seit 1674 wird in Dekaden, also alle zehn Jahre, gespielt, Ausnahmen bildeten die Jahre 1811, 1815, 1871, 1922, 1934 und 1984 – kriegsbedingt, wegen der politischen Umstände oder um ein Jubiläum zu begehen.
Anstrengende Jesus-Rolle
Der Leser kann hinter die Kulissen blicken und erfährt unter anderem, wie anstrengend es für den Jesus-Darsteller ist, das 90 Kilo schwere Holzkreuz zu schleppen, zwanzig Minuten lang am Kreuz zu hängen, dabei Kälte, Schnee oder Platzregen zu trotzen und mit Beinkrämpfen oder schwirrenden Wespen vor dem Gesicht glaubhaft vor 10.000 Zuschaueraugen den am Kreuz gestorbenen Heiland zu mimen. Dennoch ist Jesus natürlich eine der begehrtesten Rollen, seine Darsteller wurden in Oberammergau und weit darüber hinaus berühmt, wie etwa Anton Lang, der legendäre Christus von 1900, 1910 und 1922. Im normalen Leben Töpfermeister ließ sich Lang Autogrammkarten mit dornengekröntem Christuskopf drucken, die national wie international reißenden Absatz fanden. Auch in den Jahren zwischen den Passionen trug der Familienvater Bart und Haar lang und wallend – die Identifizierung mit seiner Rolle war groß und der Starkult dem eines Hollywood-Schauspielers jener frühen Film-Zeit ebenbürtig.
Historische Fotos
Besonders interessant sind natürlich auch die zahlreichen historischen Fotos von Aufführungen, teilweise aus dem 19. Jahrhundert. Darunter finden sich etliche opulente „Lebende Bilder“, also jene stummen Verweise aus dem Alten Testament auf die Passion Christi, die jeder der einzelnen Szenen des Spiels vorangestellt sind. Fazit: Wer einen Besuch der Passionsspiele heuer plant, kann sich mit diesem Buch prima darauf vorbereiten.