Fulda – Als vor acht Jahren die Debatte über Missbrauch in der katholischen Kirche in Deutschland in Gang kam, sprach Jesuitenpater Klaus Mertes die These als erster aus: Es gebe spezielle Bedingungen in der katholischen Kirche, die Übergriffe auf Kinder und Jugendliche begünstigten. Inzwischen mehren sich die Stimmen, die dies so sehen und nach Veränderungen rufen. Papst Franziskus erklärte, "zum Missbrauch Nein zu sagen, heißt zu jeder Form von Klerikalismus mit Nachdruck Nein zu sagen" - eine klare Absage an eine Haltung, die von einer unantastbaren Position von Geistlichen ausgeht.
Die Studie über Missbrauch in der katholischen Kirche, die am Dienstag in Fulda vorgestellt wurde, kommt in ihren abschließenden Fragestellungen zu ähnlichen Überlegungen. Neben dem Klerikalismus haben die Forscher die Ehelosigkeit der Priester sowie die Einstellung der Kirche zur Homosexualität in den Blick genommen. Ihr Fazit: Zum einen stellen weder Homosexualität noch der Zölibat an sich Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen dar. Die Einstellung der Kirche zur Homosexualität sowie die Ehelosigkeit bergen demnach trotzdem Probleme.
Ein Beratungstelefon für Betroffene von sexuellem Missbrauch ist von Dienstag, 25. September, 11 Uhr, bis (zunächst) Freitag, 28. September, 20 Uhr, unter (08 00) 0 00 56 40 erreichbar - anonym und innerhalb Deutschlands kostenfrei als Angebot der Deutschen Bischofskonferenz. Beratung via Internet und weitere Informationen gibt es in dieser Zeit auch unter hier sowie im Hilfeportal Sexueller Missbrauch des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs.
So könne die Verpflichtung zu einem zölibatären Leben Priesteramtskandidaten mit "einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung als Lösung innerpsychischer Probleme scheinen", heißt es in der Studie. Die Priesterausbildung bringe zusätzlich sogar die Aussicht auf ein enges Zusammenleben ausschließlich mit Männern. Besondere Strukturen und Regeln der katholischen Kirche könnten ein "hohes Anziehungspotenzial für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben".
Überwiegend männliche Opfer
Weil die Kirche homosexuelle Beziehungen oder Praktiken offiziell ablehne, bestehe die Gefahr, dass entsprechende Neigungen versteckt gelebt werden müssten. Und wörtlich: "Bei entsprechender Disposition eines Priesteramtskandidaten oder Priesters könnte ein komplexes Zusammenspiel von sexueller Unreife, abgewehrten oder verleugneten homosexuellen Neigungen in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung im Falle ungünstiger Risikokonstellationen die Schranke zu sexuellen Handlungen mit männlichen Kindern und Jugendlichen herabsetzen". Dies böte, so meinen die Wissenschaftler, eine weitere Erklärung für das Überwiegen männlicher Opfer beim sexuellen Missbrauch durch Geistliche.
Klerikales Amtsverständnis kann Missbrauch begünstigen
Auch zum Klerikalismus nehmen die Wissenschaftler Stellung: Sie definieren ihn "als das Bestreben, einer Religion über die religiös-geistige Einflusssphäre hinaus weltliche Macht zu verleihen und religiösen Dogmen politische Geltung und politisches Gewicht zu verschaffen".
Die Autoren der Studie kommen zu dem Schluss, dass "Priester mit klerikalem Amtsverständnis dazu tendieren, Laien in der Interaktion zu dominieren und asymmetrische Abhängigkeitsstrukturen zwischen sich und Laien zu schaffen". Die Ausdehnung dieser "unglücklichen Identitätsstrategie" und die missbräuchliche Ausübung der durch Amt und Weihe verliehenen Macht könne im Extremfall auch sexuellen Missbrauch begünstigen oder in sexuelle Missbrauchstaten münden. (kna)