Der offene Rundbau der Kapelle gibt den Blick frei auf die beklemmende Weite des KZ-Geländes. Man kann nicht umhin, sich vorzustellen, was hier einst vor sich gegangen sein mag – und sich gleichzeitig zu ermahnen, dass all diese Vorstellungen nicht einmal ansatzweise das abbilden können, was Menschen hier erleben mussten.
Innerer Zusammenhang
Es ist 15 Uhr. Das Gebet in der Todesangst-Christi-Kapelle ist abgeschlossen. Pfarrer Paula beeilt sich, die zuvor aufgestellten Stühle wieder aufzuräumen. Wenige Meter entfernt, in der Kirche des Karmel Heilig Blut, beginnt soeben das tägliche Nachmittagsgebet, an dem er gerne teilnehmen möchte. Der Karmel grenzt direkt an die Gedenkstätte und ist durch den nördlichen Wachturm des ehemaligen Konzentrationslagers zu erreichen. Für Schwester Elija Boßler besteht zwischen dem Karmel und der Gedenkstätte gewissermaßen ein innerer Zusammenhang. „Dieser Ort hat Schreckliches erlebt und steht ganz stark für die deutsche Geschichte. Und dieses Kloster direkt nebenan ist so etwas wie ein Gegenzeichen, vielleicht eine Antwort“, erklärt sie nachdenklich.
Seit beinahe 55 Jahren ist der Karmel ihr Zuhause. Als sie mit 22 Jahren in den Orden der Karmeliterinnen eintrat, war sie tief berührt von der großen Bedeutungskraft des Klosters. „Ich bin 1965 hier gewesen. Da standen zum Teil noch einige Baracken und es wurde gerade alles umgebaut: Die Baracken wurden erst abgerissen, dann 1965/66 die Gedenkstätte gestaltet“, erinnert sie sich. „In dieser Zeit war ich hier und habe diesen Umbruch erlebt. Da war das Kloster bereits etwa ein halbes Jahr gegründet. Ich bin natürlich auch hier in der Kirche gewesen. Und das war der Punkt, an dem ich tief berührt war und mich dazu entschieden habe, hier einzutreten.“
Leben mit besonderen Schwerpunkten
Der Raum, in dem die Karmeliterinnen Gäste in Empfang nehmen, ist, wie das gesamte Kloster Heilig Blut, schlicht eingerichtet. Ebenso wie die Todesangst-Christi-Kapelle hat Architekt Wiedemann die Anlage der Ordensgemeinschaft entworfen. Er stand dabei vor der Aufgabe, dem kontemplativen Leben der Schwestern eine äußere Gestalt zu geben. „Die Bauanlage entspricht in besonderer Weise der Eigenart des Ordens! Die Zellen sind klein, wirken aber durch ihr Giebeldach wie eine Einsiedlerhütte. Der von überallher sichtbare Weihwasserstein inmitten des Klosters weist auf den zentral gelegenen Chor hin und mahnt so, in der Gegenwart Gottes zu leben“, beschrieb die Gründerin Mutter Maria Theresia die Intention des Architekten im Jahr 1968. „Der Barackencharakter des Baus sowie die Lage der Zellen, die in einer Front alle auf das ehemalige KZ schauen, drängen zu einer ständigen Ausrichtung der ausschließlich auf Gott verweisenden Lebensform der Karmelitinnen. Der Grundriss bildet ein Kreuz, das die ehemalige Lagerstraße fortsetzt und abschließt.“
Aktuell leben 16 Schwestern im Karmel Heilig Blut. Wer hier eintritt, kann nicht umhin, sich mit dem besonderen Standort auseinanderzusetzen. „Wir wissen, wo wir leben“, betont Schwester Elija. „Bei uns kann niemand eintreten, der mit dem, was nebenan ist, nichts zu tun haben will. Und das ist auch Teil der Ausbildung. Es gehört dazu, dass man sich mit der Geschichte des Ortes befasst.“ Zwar leben die Ordensschwestern hier ein, wie sie es nennt, „ganz normales Karmelleben wie überall auf der Welt auch“ – aber eben mit besonderen Schwerpunkten. Diese kommen beispielsweise in Fürbitten, im Gebet oder in den Gottesdiensten zum Ausdruck. „Aktuell beschäftigen wir uns zum Beispiel auch mit rechtsextremen Tendenzen in der Gesellschaft.“
Immer wieder stellte das Kloster in den vergangenen Jahrzehnten seine Räumlichkeiten für Veranstaltungsreihen zur Verfügung. Regelmäßig finden etwa Gedenkfeiern für den seligen Karl Leisner statt, der am 17. Dezember 1944 als Häftling im KZ Dachau durch den ebenfalls inhaftierten Bischof des französischen Bistums Clermont, Gabriel Piguet, zum Priester geweiht wurde.