München - Elf Frauen sitzen im Kreis und singen, weil sie traurig sind. Dagmar Aigner begleitet die Gruppe auf ihrer Gitarre. Sie ist ausgebildete Gesangspädagogin und lädt einmal in der Woche in den großen Saal eines Münchner Bestattungsinstituts ein. Sie ist eine halbe Stunde früher gekommen und hat den Raum sorgfältig vorbereitet, ein gelbes Tuch in der Mitte des Stuhlkreises ausgebreitet, auf das sie eine große weiße Kerze in Form einer Blüte und Teelichter in farbigen Gläsern stellt.
Die Frauen, sie sind etwa zwischen 50 und 70 Jahre alt, schauen in die kleinen Flammen und beginnen das Treffen mit einem gemeinsamen afrikanischen Begrüßungslied. Es heißt „Sali bonani“, „Guten Tag“, und klingt ganz unbeschwert. Dabei darf jede Frau einen Namen nennen, der in die Strophe eingesetzt und von allen gesungen wird: Rainer, Armin oder Josef. Es sind die Namen von Menschen, die sie schrecklich vermissen, mit denen sie gerne fröhlich wären und die sie so gerne wieder an ihrer Seite hätten.
Trauerwellen nicht nur im November
Dagmar Bender schließt während des Liedes die Augen. Dann spürt sie ihren verstorbenen Mann ganz nah bei sich. Aber auch die anderen Toten, an die im Kreis gedacht wird. „Ich empfinde, dass sie dann hier sind. Als Energie. Und das ist tröstlich“, sagt sie. Besonders im November, wenn die Tage grau und die Bäume kahl sind. Dann hört das Ziehen in der Seele nicht auf, wenn Dagmar Bender auf dem Friedhof vor dem Grab ihres Mannes steht. Vor eineinhalb Jahren ist er unvermittelt an einem stillen Herzinfarkt gestorben. Sie kommt aber auch im Sommer bei vollem Sonnenschein in den Singkreis. „Es gibt ja auch an schönen Tagen plötzlich so eine Welle, wo man merkt – das Leben ist schwer.“ Schwer, weil der geliebte Mensch nie wieder zurückkommt, wenigstens nicht so wie früher.
Diese Trauer-Wellen kennen alle, die im Singkreis dabei sind. Auch Andrea Schnepf. Sie kommt seit einigen Jahren regelmäßig vorbei. Auch sie kämpft mit einem Verlust. Allerdings hat hier nicht das Leben eines Menschen, sondern die Liebe aufgehört: „Ich habe meine Beziehung beenden müssen und das hat mich ziemlich umgeworfen.“ Die schlechten Gefühle und der Schmerz darüber behindern auch ihre neue Partnerschaft, erzählt sie.
Wenn ihr Trauer und Sorgen die Luft abdrücken, kommt Andrea Schnepf in den Singkreis und vereint ihre Stimme mit denen der anderen Frauen, die alle einen engen Angehörigen verloren haben. Sie will nicht in einem Chor für Auftritte proben und sich unter Leistungsdruck setzen, sondern mit den Stimmbändern meditieren: „Das bringt mich runter, wenn ich innerlich unruhig hierher komme, es gibt mir Kraft und Stabilität.“ Die Trauer löse sich dann in ihr. Am meisten bei den einfachen Liedern aus der christlichen Gemeinschaft von Taizé.
Kurz tröstlich und wiederholbar
Die Gesangsstücke wählt Dagmar Aigner „sehr bewusst“ aus. Afrikanische Melodien, jüdische Kanons, indische Mantras oder christliche Andachtsstrophen. Eine tröstliche Botschaft mit einem kurzen Text sollen die Stücke haben, gefühlvoll, einfach und eingängig sein. Fast alles wird ohne Noten- und Textblatt gesungen: „Wenn ich eine Seite mit 13 Strophen austeile, dann ist mehr das Kognitive, der Kopf zugange“, sagt Aigner. Auch das häufige Wiederholen der kurzen Strophen sei sehr wichtig. Diese gemeinsamen und gleichbleibenden Gesänge hätten auch eine körperliche Wirkung, erläutert die Gesangspädagogin. Medizinische Studien belegten, dass die wiederkehrenden Melodien Glückshormone freisetzten, das Herz ruhiger schlagen ließen und das Immunsystem stärkten.
Das spüren offenbar auch die Frauen in Aigners Singkreis, wenn sie sich im Takt wiegen, die Augen schließen und einander ein Taschentuch zustecken, wenn Tränen fließen. Niemand muss seine Trauer rechtfertigen, diskutieren und in Worte fassen, sondern darf einfach singen. Männer nehmen nur selten teil. Vielleicht, weil hier nichts geleistet werden muss und man nicht einfach zupacken kann, um ein Problem zu lösen, vermutet Dagmar Aigner. Männern fällt es nach ihrer Beobachtung schwer, sich einfach in den Gesang und „ins Gefühl fallen zu lassen“.