Leider entschwindet aus unserem Alltag ein Kulturgut nach dem anderen. Manche der bisherigen Höflichkeitsformeln gelten als gestrig, Rücksichtnahmen sind selten geworden, festliche Kleidung für festliche Anlässe ist nicht mehr unbedingt nötig. Auch unsere Essenskultur hat sich drastisch geändert. Natürlich weiß auch ich, dass viele Zwänge aus unserem hektischen Alltagsleben stammen. Da ist ein flottes Kantinenessen angesagt, oder eben auch ein Schnellimbiss. Wenn ich aber immer mehr – nicht nur junge – Menschen sehe, die ihren Döner im Fußgängergewirr auf der Straße gehend und telefonierend aus dem Papier zerren – das müsste nun wirklich nicht sein.
Jede Religion kennt Segnung der Speisen
Mit unserer Essenskultur hat sich auch unsere Tischkultur verändert. Das Idealbild, nach dem die Großfamilie sich zum gemeinsamen Mahl versammelt, ist leider vielfach Vergangenheit geworden. Dass vor und auch nach dem Essen ein Gedanke an den eigentlichen Spender aller dieser Gaben ergeht, ist fast ganz verloren gegangen. Dabei kennt jede Religion die Segnung der Speisen. Unsere Tischgebete – und vor allem das Mahlbereitungsgebet in der Heiligen Messe – gehen auf jüdische Wurzeln zurück. Jesus hat bei jedem Mahl nach jüdischer Tradition den Segen gesprochen, so zum Beispiel bei den Brotvermehrungen, wo es ausdrücklich heißt: „Er sprach den Lobpreis, brach die Brote und gab sie den Jüngern“ (Mt 14,19.). Ohne Zweifel war es auch so beim Letzten Abendmahl.
Üblicherweise sprach der Familienvater diesen Text zu Beginn: „Gepriesen seist du, Jahve, unser Gott, König der Welt, der die Früchte der Erde geschenkt hat …“ Der Abschluss des jüdischen Tischgebets lautet: „Gepriesen bist du, Jahve, unser Gott, König der Welt, der die ganze Welt speist durch seine Güte. In Gnade, Liebe und Erbarmen gibt er Brot allem Leben, denn seine Gnade währet ewiglich.“
Segen über das Leben
Nach der heiligen Theresia von Lisieux ist jedes Gebet ein Aufschwung des Herzens, ein Blick zum Himmel, ein Ausdruck der Dankbarkeit und Liebe inmitten der Prüfungen des Lebens. Wäre das nicht auch in unserer Zeit möglich, mit einem kurzen Innehalten das zu bedenken, was überhaupt nicht selbstverständlich ist? Ein Tischgebet kann viele Formen annehmen. In unserer individualisierten Gesellschaft mit immer mehr Single-Haushalten könnte auch der allein essende Mensch einen Moment des Dankes erübrigen. Bei jeder Nahrungsaufnahme wird auch durch ein für mich allein gesprochenes Dankeschön das Essen nicht nur besser schmecken, sondern auch bekömmlicher sein.
Warum nicht in der Zweiergemeinschaft eine kurze Stille vor dem gesprochenen: „Guten Appetit!“. Zur Tischkultur gehören schließlich auch zusammen planen, Tischdecken, miteinander sprechen und gemeinsam Aufhören. Dank an die Bereitung des Mahles und an den Geber aller guten Gaben. Sind das nur Ideale ohne jedes realisierbare Fundament? Ich meine definitiv: Nein! Wo auch immer Eltern mit ihren Kindern bei Tisch beten, die Kinder werden dies als Erwachsene selber übernehmen und weitergeben. Wo immer ein Segen über das Essen gesprochen wird, wird auch ein Segen über dem Leben liegen. (Wolfgang Oberröder/ Der Autor ist emeritierter Professor für Gemeindepastoral und Seelsorger in München)