Abenteuerliche Kehrtwende

Ein offener Dialog mit einem Papst, der keine Tabus kennt. Monsignore Wolfgang Sauer zieht ein Fazit der Familiensynode, bei der offen über Tabuthemen wie Sexualität, Homo-Beziehungen und Sünde gesprochen wurde.

Monsignore Wolfgang Sauer (Bild: Sankt Michaelsbund) © Sankt Michaelsbund

Der „Bischof von Rom“ der kam, sah und siegte?

Als sich am 13. März 2013 der eben auf den Stuhl Petri berufene argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio auf der Loggia des Petersdomes zeigte, war den empfindsameren Beobachtern klar, dass mit der Wahl von Papst Franziskus ein neues universalkirchliches Paradigma in die Kirchengeschichte Einzug gehalten hatte. „Quasi alla fine del mondo“, fast bis zum Ende der Welt mussten die Herren Kardinäle ihre Suchbewegungen ausstrecken, um einen neuen Bischof für Rom zu finden. Einen „Bischof von Rom“, der sich bewusst nicht als Papst vorstellte, und gleichsam als erste Amtshandlung seines Pontifikats um das Gebet und den Segen der auf dem Petersplatz anwesenden Gläubigen bat. In diesem Augenblick wich der tosende Jubel einer Minute des versammelten, betenden Schweigens.

Zerbeulte Kirche und Karnickel

Wer Nachbetrachtungen zur zurückliegenden Generalversammlung der Bischofssynode (2015) anstellen will, wird die bis heute immer noch außergewöhnliche Persönlichkeit und Rolle von Papst Franziskus nicht übersehen dürfen. Sein bisheriges Pontifikat ist geprägt von mancherlei Überraschungen, die von europäischen, näher hin von deutschen, Beobachtern bisweilen kopfschüttelnd registriert oder gar als peinlich empfunden wurden. Da redete einer davon, dass ihm eine zerbeulte Kirche als Vehikel des Evangeliums lieber wäre als ein in kurialem Glanz etabliertes System. Manchen gilt das „Karnickelwort“ auf dem Rückflug von Korea als unverzeihlicher Ausrutscher, und das Lob an den Vater, der seine Kinder wenigstens nicht ins Gesicht schlägt, sondern nur in der herkömmlichen Weise züchtigt, wurde wochenlang als pontifikal-kapitaler Fehltritt eine Prügelpapstes diskutiert.

Dem Volk auf´s Maul schauen

Für lateinamerikanische Ohren waren solche und vergleichbare Äußerungen, wenn schon ungewohnt, so doch nicht gar so skandalös. Franziskus spricht die Sprache der Menschen und verliert sich nicht in salbungsvoller Rhetorik. Dass es nicht unbedingt daneben sein muss, „dem Volk auf’s Maul zu schauen“, haben viele im Land der Reformation vergessen. Wie auch immer: Wer die „Relatio Synodi“, also das dem Papst vorgelegte Abschlussdokument der „Familiensynode“ liest, wird schnell erkennen, dass die anwesenden Mitglieder angstfrei kommunizieren und mutig formulieren konnten. Ein Verdienst dieses Papstes, der als Prinzip der Synode wiederholt zum rückhaltlos offenen Dialog aufrief. Es kann nicht das Ziel dieses Beitrags sein, die umfängliche „Relatio“ zu referieren. Wohl aber gilt es darauf zu achten und festzustellen, dass die verschiedenen Abstimmungsergebnisse zu den einzelnen Artikeln sehr wohl erkennen lassen, dass in der Synodenaula gerungen und wohl auch gestritten wurde. Die Opposition gegen jene Ausführungen, die manche Bischöfe dem als „zu pastoral“ und deswegen gefährlich phantasierten Einfluss des Papstes zuschrieben, ist überall dort erkennbar, wo die Nein-Stimmen weit über die Zahl üblicher Einzel-Abweichler hinausgehen. Schon in der Vorsynode des Jahres 2014 hatte sich dies abgezeichnet.

Navigationssystem für Glaubende

Wer also die Ansprache des Papstes in der Eucharistie zum Abschluss der Synode am 25. Oktober 2015 auf sich wirken lässt, wird besonders bei jenen Passagen aufmerken, in denen Franziskus von den „mindestens zwei“ Versuchungen der Kirche spricht: Weitermarschieren, als ob nichts gewesen wäre, und andererseits: Dem gemeinsamen Weg der Glaubenden gleichsam ein Navigationssystems aufzuzwingen, in dem alles schon klar vorberechnet ist und jeder Umweg „nur stört“. Man wird gespannt sein dürfen, inwieweit sich diese unverhohlene Kritik am Denken mancher Synodenteilnehmer in dem für dieses Frühjahr 2016 erwarteten post-synodalen Lehrschreiben des Papstes abzeichnen wird.

Über Sexualität

Der „Relatio Synodi“ ist anzumerken, dass sie eine Synopse ist, eine redaktionelle Zusammenschau verschiedener Ergebnisebenen, die nicht immer kompatibel oder gar „aus einem Guss“ sind. Was freilich ebenfalls auffällt ist eine schnörkellose und von jeder Prüderie befreite Sprache, wie sie vor einem halben Jahrhundert, am Ende des Zweiten Vatikanischen Konzils, so wohl noch nicht denkbar gewesen wäre – und auch heute nicht selbstverständlich erscheint, wenn Bischöfe und Kardinale sich über eheliche Intimität und sexuelle Verhaltensweisen heutiger Menschen Gedanken machen. Man mag dem vorliegenden Dokument manche Brüche oder unnötige Wiederholungen vorwerfen. Die Analyse der wenig erbaulichen Realität, in der das „Kulturgut Ehe“ in ihrer Berufung und Sendung verortet wird, ist detailliert und bisweilen schonungslos ehrlich. Zwar klingt immer wieder einmal der Ton des Bedauerns durch, wenn etwa Unvereinbarkeiten mit der Lehre der Kirche beim Namen genannt werden, doch stets ist das Bemühen zu erkennen, den heutigen Realitäten im Kontext der bisweilen atemberaubenden Vielfalt gelebter menschlicher Beziehungen einigermaßen gerecht zu werden. Wo in solchen Textstellen die Intention der pastoralen Differenzierung besonders groß geschrieben wird, steigt – erwartbar – auch das Quorum der Ablehnungen bei den jeweiligen Schlussabstimmungen. Erzbischof Heiner Koch, Berlin, einer der drei deutschen bischöflichen Synodenteilnehmer und selbst erstmals Mitglied und Augenzeuge eines römischen synodalen Ereignisses, ließ in einem Interview erkennen, dass einige Repräsentanten anderer Kontinente sich gegen eine theologische oder pastorale „Neokolonialisierung“ durch westeuropäische oder nordatlantische Verhaltensmuster verwahrten. Wie sollte man auch von christlichen Kirchen, in denen noch vor 100 Jahren westliche Missionare gegen die Polygamie predigten, erwarten können, dass sie sich in einer abenteuerlichen Kehrtwende für grenzwertig liberale Beziehungsmodelle begeistern würden? In den hierzulande heiß diskutierten Konfliktfeldern, sozusagen von Abtreibung über „Homoehe“ bis Zölibat, waren auch moderate Vorschläge einer situationsbezogenen Pastoral erkennbar nicht mehrheitsfähig.

Keine Alleingänge

Auch der vielbeachtete Synodenbeitrag von Kardinal Marx, der sich für eine im jeweiligen Einzelfall behutsam differenzierte Betrachtungsweise der Lebenssituationen aussprach und darauf hinwies, dass die im Zweiten Vatikanischen Konzil vorgestellte Theologie der Liebe „im kanonischen Recht noch nicht ganz ihren Niederschlag gefunden“ habe, konnte nicht so weit überzeugen, dass etwa in der Frage der zivil geschiedenen und wiederverheiraten Menschen ein spürbar umfassender universalkirchlicher Konsens eingetreten wäre. Man ist eri?nnert an den Vorstoß der drei Bischöfe der Oberrheinischen Kirchenprovinz, die schon in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts hier einen der pastoralen Situation geschuldeten Vorstoß unternahmen: nicht nur erfolglos, sondern in herablassender Manier verworfen. Schon damals war es das Bemühen, ein im Grunde unerträgliches seelsorgerliches Schisma zu überwinden, das darauf hinauslief, dass die betroffenen Menschen bei jenen Priestern meinten Zuflucht suchen zu müssen, die ihnen „die Kommunion erlaubten“. Als ob der Priester der Schleusenwärter der göttlichen Gnade wäre, der „erlaubt“ oder „verbietet“! Bis heute muss es das vorrangige Bemühen sein, gutgemeinte klerikale Alleingänge durch eine einleuchtende und pastoral-theologisch verantwortete Praxis zu überwinden.

„Ich bin ein Sünder“

Mag sein, dass sich der Papst, wie er es als „Bischof von Rom“ wiederholt erkennen ließ, für ortskirchliche Lösungen aussprechen wird. Jede Ortskirche ist „ganz Kirche“, auch wenn sie nicht die „ganze Kirche“ ist und repräsentieren kann. Nachdem angesichts der heutigen globalisierten Informationswege die alte römische Regierungskunst „klar in den Prinzipien, moderat im Einzelfall“ an ihre Grenzen gekommen sein dürfte, könnte in einer vom Papst gewollten und transparenten Zuteilung neuer ortskirchlicher, also bischöflicher Verantwortungen, eine Lösung aufscheinen. Dass die katholische Kirche an einer solchen Multipastoralität nicht zerbricht, wäre der einheitsstiftende Auftrag des Papstamtes, dem damit eine neue, im Dialog erwachsene, Leitungskultur abverlangt würde. Wie kann man kulturellen und mentalen Eigenarten, bisweilen auch Eigenwilligkeiten, entgegenkommen, ohne das Wesen und die Tradition der katholischen Kirche zu zerstören? Dies dürfte die große Herausforderung werden. Papst Franziskus ist zuzutrauen, dass er sie meistert: in der Kraft des Heiligen Geistes. „Sono un peccatore“, betont er immer wieder: „Ich bin ein Sünder!“

(Monsignore Wolfgang Sauer - Geistlicher Direktor des ifp)