Bevor die Familie nach München zog, lebte sie für ein Jahr gemeinsam in einer Kleinstadt zwischen Landshut und Passau. Fatima N. fühlte sich gesund, hatte Freundinnen und sei lange Strecken spazieren gegangen, erzählt sie fast ein bisschen stolz. Heute schafft sie es kaum noch, die Münchner Wohnung zu verlassen. Genau in dieser Wohnung, in der sie mittlerweile seit 16 Jahren lebt, sieht sie das ganze Unheil vereint: „Ich weiß nicht, ob das stimmt oder ob das nur in meinem Kopf ist, aber diese Wohnung hat uns Unglück gebracht“, sagt sie. Nachdem sie in diese Wohnung gezogen war, sei die ganze Familie krank geworden, erzählt sie. Ihr Mann bekam schwere Depressionen und muss bis heute starke Medikamente nehmen. Auch eines der Kinder wurde psychisch krank. Und sie selbst: „Es gab eine Zeit, da konnte ich nicht einmal mehr sprechen. Weder Deutsch noch Englisch noch Persisch“, erzählt sie. „Es war, als hätte ich alle Sprachen vergessen. Selbst die Worte für meine Gebete waren verschwunden.“
Unterstützung durch Caritas
Es gab immer auch Phasen, in denen sie sich wieder besser fühlte, doch dann kamen die schlechten zurück und bremsten sie wieder vollständig aus. Fatima N. wollte weiter zur Sprachschule gehen, aber brach mehrmals zusammen und musste vom Krankenwagen abgeholt werden: „Wenn zu viele Leute um mich herum sprechen, dreht sich mein Kopf und dann werde ich bewusstlos“, sagt sie. Auch das Arbeiten hat sie mehrfach versucht, hat kleine Aufgaben in den Betrieben vom „Weißen Raben“ übernommen, einem Inklusions- und Beschäftigungsunternehmen der Caritas. Doch auch das war zu viel für sie. Mittlerweile besitzt sie einen Schwerbehinderten-Ausweis.
Auf dem Ledersofa ihr gegenüber sitzt Tatiana Uhl, Sozia lpädagogin beim psychologischen Dienst für Ausländer der Caritas. Sie betreut eigentlich Fatima N.s Ehemann, der gerade bei der Arbeit in einer Wäscherei ist. Fatima N. hat eine eigene Betreuerin, die allerdings zurzeit krank ist. Uhl kennt die Familie schon seit mehr als zehn Jahren und begleitet sie: „Beim betreutem Einzelwohnen unterstützen wir psychisch Erkrankte im Alltag, wenn möglich auch in ihrer Muttersprache“, erzählt sie. Bei Fatima N.s Ehemann sei das primäre Ziel, dass er trotz seiner Depression die Arbeit behalten könne.
Corona hat die Situation verschärft
Auch bei Fatima N. werde versucht, sie an leichte Tätigkeiten heranzuführen. „Bei ihr ist es besonders wichtig, sie bei der Alltagsgestaltung zu unterstützen und sie raus aus der Isolation zu bringen“, erklärt Uhl. „Aber durch Corona ist das zurzeit alles schwieriger.“ Die Pandemie habe ihr Übriges getan und die Situation der Familie noch weiter verschärft: auf psychischer und finanzieller Ebene.
Durch die Kurzarbeit verringerte sich das bescheidene Gehalt von Fatima N.s Ehemann in der Wäscherei noch zunehmend. Nach Abzug der Miete bliebe ohnehin nichts übrig, erzählt Fatima N. Mit der Aufstockung durch das Amt könnten sie sich gerade mal Lebensmittel leisten. Da sie nicht gearbeitet hat und somit nicht in die deutsche Rentenversicherung eingezahlt hatte, bekommt sie nur 35 Euro Rente. Die finanzielle Situation lässt sich auch an der Wohnung ablesen, die zwar sauber und gepflegt, aber mittlerweile in die Jahre gekommen ist: Die Tapete ist vergilbt und fleckig. Die Ledersofas und viele weitere Möbel und Geräte sind gespendet oder gebraucht gekauft. Der Fernseher lässt sich nicht mehr einschalten, der Backofen streikt und nur noch eine Herdplatte funktioniert. An der Decke gibt es Risse, die der Vermieter jedoch zu den Schönheitsreparaturen zählt. Das Ehepaar hat weder Geld für einen Handwerker noch für Farbe, um die Wände zu streichen.
Glück durch Enkelkinder
Fatima N. verlässt kaum noch die Wohnung, hat viele Kontakte abgebrochen. Die beiden Kinder sind mittlerweile erwachsen und selbst Eltern. Die Enkelkinder, die im Grundschulalter sind, kommen sie manchmal besuchen: „Nur sie machen mich glücklich“, sagt sie. In der Küche hat sie ein großes, gelbes Herz an die Wand gemalt und in die Mitte eine Blume aus Gips gesetzt. „Das ist mein Herz und die Blume, das sind meine Enkel“, sagt sie. Dann deutet sie auf die weißen Gitterlinien, die sich durch die gelbe Fläche ziehen: „Das ist meine Krankheit. Mein Herz ist im Gefängnis“, sagt sie. Die Gipsblume ist weiß geblieben. Für Farbe hatte sie kein Geld mehr übrig. (Eileen Kelpe, Volontärin beim Michaelsbund)