Liebe und Lust von Menschen mit geistiger Behinderung sind ein Tabuthema. Zum einen stehen sie vor ganz praktischen Schwierigkeiten, eine Beziehung zu beginnen, zum anderen werden sie leichter Opfer von Übergriffen und mitunter auch selbst übergriffig. Das interdisziplinäre Forschungsprojekt "Zwischen sexueller Selbstbestimmung und sexueller Gewalt" hat sich zwei Jahre in Theorie und Praxis damit beschäftigt. Im Interview mit der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) ziehen die Projektleiterinnen Barbara Schellhammer von der Hochschule für Philosophie München und Karolin Kuhn vom Christlichen Sozialwerk Dresden Bilanz.
Vor welchen Schwierigkeiten stehen Menschen mit kognitiven Einschränkungen, wenn sie Sexualität leben wollen?
Karolin Kuhn: Ihnen fehlt oft elementares Wissen, weil ihnen das selten vermittelt wird. Teils können sie nicht einmal Geschlechtsteile benennen. Zudem haben sie sehr viel weniger Kontaktmöglichkeiten, weil sie kaum selbstständig unterwegs sind, sondern oft auf Dritte und Fahrdienste angewiesen sind. Auch das Sammeln von Erfahrungen mit Gleichaltrigen ist erschwert. Der Tag ist für sie sehr durchstrukturiert, etwa durch das Leben in Wohneinrichtungen und Werkstätten. Einfach mal spontan mit jemandem nach der Arbeit spazieren gehen, ein Eis essen - das ist kaum möglich. Und wenn man nicht lesen und schreiben kann, ist die Kontaktaufnahme noch weiter erschwert - da kann man nicht einfach miteinander auf dem Handy chatten.
Welche Rolle spielt das Umfeld?
Kuhn: Eine ganz entscheidende. Denn die Betroffenen sind in allem elementar auf die Haltung und die Unterstützung durch das Begleitpersonal angewiesen. Und wenn eine Einrichtung die Haltung hat: "Bei uns gibt es so einen Schweinkram nicht" - dann hat man keine Chance. Und das ist weiter verbreitet, als man denkt, gleich ob die Einrichtung kirchlich ist oder nicht. Darüber hinaus ist eine gute und reflektierende Begleitung wichtig. Jemanden der fragt: Wie sind die Erfahrungen? Ist das schön? Geht es dir gut damit? Aber es zeigt sich: Dafür fehlt es oft an Personal, an Ausbildung und Geld.
Barbara Schellhammer: Wir hatten in unserem Forschungsprojekt einen starken Fokus auf dem Spannungsfeld zwischen Ermöglichen und Schutz. Da zeigte sich, dass Grenzen oft nicht gewahrt werden, weil diese Menschen das nicht in solchem Maße können wie andere. Deshalb sind sie in einem erhöhten Maß sexuellem Missbrauch ausgesetzt. Und zwar in einer doppelten Weise.
Inwiefern?
Schellhammer: Es gibt entweder den totalen Schutz, der nichts ermöglicht und dadurch gewaltvoll ist, weil das Grundrecht auf sexuelle Selbstbestimmung komplett missachtet wird. Oder aber es gibt das übergriffige Phänomen. Am häufigsten sind dabei Übergriffe zwischen behinderten Menschen untereinander. Auch weil es ihnen schwerer als anderen fällt, die Grenzen des anderen wahrzunehmen und zu respektieren.
Kuhn: Wir erleben, dass Einrichtungen aus Sorge vor Gewalt in eine Angstmentalität verfallen und den Schutz übertreiben. Plakativ gesagt: Wo es keinen Sex gibt, gibt es auch keine sexuelle Gewalt. Das Problem sind auch die Grauzonen - nicht immer lässt sich eindeutig sagen, ob es ein sexueller Übergriff war oder einvernehmlich.
Schellhammer: Das ist für die Betreuenden die besondere Herausforderung. Das zeigte sich auch in unserem Projekt: Die Betroffenen können oft nicht mit Worten ihr Erleben schildern.