Oberammergau – Es ist nur ein winziger Wortwechsel in der monumentalen fünfstündigen Aufführung. „Warum verstehst du meine Worte nicht?“, fragt Jesus Annas, den Schwiegervater des Hohepriester Kaiphas. Und der Alte knurrt nur: „Weil ich sie nicht mag.“ Vielleicht liegt hier ein Schlüssel zu den Oberammergauer Passionsspielen 2022. Am vergangenen Samstag konnte nach zweijähriger Corona-Verschiebung bei herrlichem Frühsommerwetter endlich die Premiere stattfinden. Viel Prominenz aus Gesellschaft, Politik, Kultur und Religionen war dazu in das weltberühmte oberbayerische Gebirgsdorf gekommen.
Seitenhieb auf Reformunfähigkeit der Kirche?
Zum vierten Mal nach 1990, 2000 und 2010 hat Christian Stückl als Spielleiter alle Fäden in der Hand. Sein Jesus, den wie schon beim Auftakt 2010 Pressereferent Frederik Mayet verkörpert, dürfte in der Vergangenheit selten dermaßen desillusioniert und isoliert gewesen sein. Gerade im ersten Teil der Aufführung sind eine große Traurigkeit und fast schon Müdigkeit beim Mann aus Nazareth zu spüren. Lange vorbei scheinen die Zeiten, als er am See die Fischer angesprochen hatte und sie ihm begeistert folgten.
Der Einzug in Jerusalem ist sehr gedämpft, das Hosianna schnell verklungen, stattdessen überwiegen lange und heftige Auseinandersetzungen mit seinen Gegnern aus der Priesterkaste um die starken Kaiphas (Maximilian Stöger) und Annas (Peter Stückl). Sie hassen Jesus wegen seiner mit bebender Stimme vorgetragenen Anschuldigungen, die ihre Moral und ihren Lebensstil betreffen. Der Nazarener ergreift die Option für die Armen und Verachteten, die „Huren und Zöllner“, wie es ihm seine Gegner oft um die Ohren hauen. Doch bis auf wenige Einzelne denkt hier im priesterlichen Establishment keiner ans Umdenken. Ein Stücklscher Seitenhieb auf die Reformunfähigkeit unserer heutigen Kirche?
Jesus als politischer Messias missverstanden
Auch bei seinen Jüngern und engsten Anhängern erzielt Jesus kaum einen Lerneffekt: Von ihnen wird er zumeist immer noch als der politische Messias missverstanden, der die verhassten römischen Besatzer vertreiben und das Königtum Davids neu errichten soll. Nichts liegt ihm jedoch ferner, er zielt auf innere Umkehr, eine religiöse Wandlung ab. Jesus appelliert wieder und immer wieder an Barmherzigkeit, fordert bedingungslose Nächsten- und Feindesliebe – und stößt auf zahlreiche taube Ohren. „Wer kann das anhören?“, fragt Judas (sehr beeindruckend und überzeugend in seiner vielschichtigen Tragik des verratenen Verräters: Cengiz Görür) stellvertretend für viele. Wenig später bringt er es auf den Punkt: „Rabbi, ich bete dich an, aber ich bin es müde, zu glauben und zu hoffen.“
Botschaft Jesu in Zeiten von Missbrauchsskandal, Corona-Krise und Ukraine-Krieg
So wird das Passionsspiel zu einer aktuellen Antwort auf den Zustand von Gesellschaft und Kirche im Jahr 2022. Viel Textarbeit sei, so heißt es im Vorwort des Textbuches, unternommen worden, die Fragestellungen hätten sich seit 2010 verschoben, ehemals selbstverständlich bekannte theologische Details seien heute unbekannt, man habe vor allem auch die Fragen nach Sinn und Zukunft menschlichen Daseins in den Blick nehmen und wichtige Elemente der Botschaft Jesu für heutige Zuschauer verdeutlichen wollen. Angesichts von Missbrauchsskandal, Corona-Krise und Ukraine-Krieg ein großes Unternehmen.
Mögen und verstehen wir heute seine Worte? In einem Pressestatement gesteht Stückl selbst: „Wenn dich jemand auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin!‘ Diesen Satz können wir nicht ertragen, wir glauben nicht, dass diese Haltung funktioniert. Nicht im eigenen Leben und schon gar nicht in der Welt. Wohin dies führt, sehen wir in der Ukraine, in Syrien, im Jemen oder in Afghanistan und an vielen anderen Orten der Welt.“
Erinnerungen an Gelübde der Oberammergauer im Pestjahr 1633
Ja, die Welt ist heute dunkler als noch ehedem 2010, was auch Bühnenbild und Kostüme von Stefan Hageneier widerspiegeln: Grobe graue Stoffe, derbes Leinen, selbst die vor zwölf Jahren noch so knallig-poppigen Farbenräusche der lebenden Bilder sind sehr zurückgenommen und gedämpft. Umso mehr tritt die wunderbare Musik (Chor und Orchester unter der Leitung von Markus Zwink) in Erscheinung. Alle Sängerinnen und Sänger tragen schwarz-weiße bäuerliche Kleidung, die an das Gelübde im Pestjahr 1633 erinnern soll. Erstmals wurde auch an den Beginn eine Szene prologartig vorgeschoben, die den Ursprung des Spiels ins Gedächtnis ruft: „Und haben das Gelöbnis gemacht, die Passionstragödie alle zehn Jahr zu halten und von dieser Zeit an ist kein einziger Mensch mehr gestorben“, heißt es da. In Pandemie-Zeiten eine starke Aussage und Wirkung.